collaboration/conception/graphic design
chewing the scenery
54th biennale di venezia
ed. andrea thal
publication series, 3 editions
edition fink, 2011
Prozesshafte Publikationsserie herausgegeben im Auftrag des Bundesamtes für Kultur als Teil des offiziellen Beitrages der Schweiz an der 54. Kunstbiennale Venedig.
1st edition:
Künstlerische Beiträge: Maria Iorio / Raphaël Cuomo, Uriel Orlow, Eran Schaerf, Pauline Boudry / Renate Lorenz, Ines Doujak / Marth
Textbeiträge von Ann Cvetkovich, Mathias Danbolt, Antke Engel, Patricia Purtschert, Andrea Thal sowie ein Gespräch mit Tim Zulauf (dt./ital./engl.)
3rd edition:
Künstlerische Beiträge: Maria Iorio / Raphaël Cuomo, Uriel Orlow, Eran Schaerf, Pauline Boudry / Renate Lorenz
Textbeiträge: Mareike Bernien / Kerstin Schroedinger, Ann Cvetkovich, Mathias Danbolt, Antke Engel, Joerg Franzbecker, Elizabeth Freeman, Maria Lienhard / Jovita dos Santos Pinto, Patricia Purtschert, Rubia Salgado, Andrea Thal sowie ein Gespräch mit Tim Zulauf (dt./engl.)Bildstrecke zu den Projekten von Pauline Boudry / Renate Lorenz und Tim Zulauf / KMUProduktionen und zu den Veranstaltungen in und um das Teatro Fondamenta Nuove.
Konzeption: Andrea Thal, Georg Rutishauser, Anna Frei
Gestaltung Anna Frei, Georg Rutishauser, Zürich
edition fink, Zürich 2011
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Die Publikation «Chewing the Scenery» erscheint als eigenständiger Beitrag zur gelichnamigen Ausstellung, welche Teil des Schweizer Beitrages zur 54. Biennale von Venedig ist. Über die Dauer der Ausstellung wird die Publikation weiterentwickelt und in drei überarbeiteten und erweiterten Auflagen herausgegeben. Entsprechend dieser prozesshaften Arbeitsmethode stellt jede Ausgabe ein lückenhaftes Ganzes dar und eröffnet komplexe Perspektiven auf das skizzierte Themenfeld.
Die Publikation beinhaltet drei umfangreiche Beiträge von Maria Iorio / Raphaël Cuomo, Uriel Orlow und Eran Schaerf. Neben diesen drei künstlerischen Beiträgen versammelt die Publikation Texte von Antke Engel, Mathias Danbolt, Patricia Purtschert und Ann Cvetkovich sowie einen Einführungstext von Andrea Thal und ein Gespräch mit Tim Zulauf.
Die lose ineinandergelegten Beiträge der Publikation werden in den folgenden Auflagen erweitert und durch neue Texte, beispielsweise von Rubia Salgado, ergänzt. Die zweite Auflage der Publikation erscheint zu den Veranstaltungen, die im September im Teatro Fondamenta Nuove stattfinden, die dritte schliesst Material zu den Ausstellungsbeiträgen sowie den Veranstaltungen mit ein und erscheint im November, nach dem Ende der Ausstellung
Ausgehend vom Titel des Projektes unternimmt Antke Engel in ihrem Textbeitrag «Chewing the Scenery – Reading the Cud» eine Lektüren des Titels der Ausstellung aus queer-feministischer Perspektive. Durch das Verständnis von «scenery» als Fantasieszenario öffnet Antke Engel einen Raum, in dem queere und postkoloniale Begehren aufeinandertreffen und Strategien zur Dekonstruktion von Diskursen der Aufklärung und zur Umarbeitung der Gewalt von (kolonialer) Geschichte möglich
werden. Dabei geht das literarische Verständnis von «chewing the cud» (wiederkäuen) von der zu verdauenden Masse als einer Materialisierung von gekauter, verfilzter Zeit aus und deutet «chewing» (kauen) als eine politische Praxis, die festgeschriebene Strukturen aufbricht.
In Eran Schaerfs «Wanderblog» verlässt Rotkäppchen den engeren Rahmen der Fiktion und unternimmt eine anachronistische Reise entlang «realer» Ereignisse und Orte. Die Fortsetzungsgeschichte folgt zahlreichen Nachrichtenmeldungen und Blogeinträgen, unterschiedlichen roten Kopfbedeckungen und den Berichten von «Beteiligten», die darüber spekulieren, ob sich Rotkäppchen nun in der Schweiz, in Italien oder im Nahen Osten aufhält. Die Verkettung von visuellen Zeichen und Textfragmenten hinterfragt dabei die Repräsentationslogiken der Medien und beteiligt die Betrachter_innen durch ihre offene Anlage an der Herstellung möglicher Sinnzusammenhänge. Damit bildet «Wanderblog» einen Raum, in dem Geschichte und Fiktion, Nachrichtenmeldung und Märchen nicht mehr länger als klar zu unterscheidende Bereiche erscheinen, sondern sich auf komplexe Weise verflechten und ineinanderfalten.
Die dumpfe Beklommenheit, das diffuse «feeling bad» (sich schlecht fühlen) in Anbetracht kurzsichtiger politischer Manöver und so mancher Weltgeschehnisse bilden den Einstieg in Ann Cvetkovichs Text «Depression: A Public Feelings Project». Darin schlägt sie vor, die politische Dimension von Depression anzuerkennen, indem sowohl dem kollektiven Empfinden einer Malaise wie auch der klinisch diagnostizierten Depression ein kritisches Potenzial zugestanden wird. In aktivistischen Projekten und der eigenen Schreibpraxis sucht die Autorin nach Äusserungsformen dieses Potenzials des «being stuck» (steckenbleiben) oder des «impasse» (Stillstand) ausserhalb der traditionellen Formen des Protests und der Kritik.
Uriel Orlow untersucht in seinen Arbeiten die blinden Flecken der Repräsentation innerhalb der Konstruktion linearer Geschichtsschreibung. Entlang fragmentarischer Konstellationen von Fotografien, Texten und Filmen sucht er dabei nach assoziativen Erzählstrukturen, die grössere Recherchefelder in temporären Gefügen zusammenbringen. Sein Beitrag in der Publikation geht von Material aus, das Uriel Orlow während und im Zusammenhang mit dem Dreh seines in Armenien und der Türkei entstandenen Filmzyklus «Remnants of the Future/Precursors of the Past» gesammelt hat. Im Zentrum stehen dabei verbundene historische Nebenschauplätze und Überreste von anachronistischen Gedächtnispraktiken: eine am Ende der Sowjetzeit, nach dem Erdbeben von Spitak erbaute und nie fertiggestellte Geisterstadt im Norden Armeniens, eine kurdische Ortschaft in Ostanatolien, die aus den Steinen eines alten armenischen Klosters erbaut wurde, Totenmasken von Würdenträgern sowie der Prozess der Recherche selber. Ähnlich einem «haunting» (Heimsuchung) treffen dabei Geister der Vergangenheit auf Stimmen aus der Zukunft.
«Simultaneously: Queer Politics – All at Once», der von Mathias Danbolt für diese Publikation geschriebene Text, zeigt die zeitliche Hierarchisierung der Chronologie auf, mit der unterschiedliche Zeitrahmen entlang einer gradlinigen Zukunftsperspektive angelegt werden, um damit eine Dichotomie von «fortschrittlich» und «rückständig» herzustellen und zeitliche Distanz als Objektivität (miss) zu verstehen. Angesichts der Islamophobie, die im Zuge des zunehmenden Rechtsrutsches in so vielen europäischen Ländern zu beobachten ist, und innerhalb deren die relative Akzeptanz von Schwulen und Lesben als Marker für Fortschrittlichkeit genutzt wird, unterstreicht der Autor die Notwendigkeit einer queeren, politischen Konzeption des Gleichzeitigen und des Gemeinsamen von queerem Aktivismus, Nachtklub und Rassismuskritik – von Lust und Verlust.
Unter dem Titel «Twisted Realism» recherchieren Maria Iorio/Raphaël Cuomo seit mehreren Jahren die insbesondere in den Aussenbezirken der grösseren Städte vollzogenen Neuplanungen des städtischen Raumes im Italien der Nachkriegszeit und deren Darstellung in Kinofilmen. Für ihren Beitrag für die Publikation widmen sie sich dem in unterschiedlichen Fassungen bestehenden Drehbuch von Pier Paolo Pasolini zu seinem Film «Mamma Roma» (1962) – von dem es neben unterschiedlichen Skripts und der Verfilmung auch eine literarische Fassung gibt. Durch das Zusammenstellen von Ausschnitten aus dem Drehbuch und einer Sammlung von Texten und Bildern entsteht dabei eine Collage zur Ökonomie der Sichtbarkeit, zu privaten und öffentlichen Archiven und zur vielfältigen Erinnerung an einen dezidiert politischen Autor und Regisseur, dessen Film heute von Medusa Film (einer Filiale von Mediaset, die zum Konsortium von Silvio Berlusconi gehört) vertrieben wird.
Patricia Purtscherts «Chewing on Post_colonial Switzerland: Redigesting What Has Not Yet Been Swallowed» erzählt die Geschichte eines Zitats. Eines Zitats, das die Beteiligung der Schweiz am Kolonialismus leugnet und das gerade dadurch diese Verbindung einfacher denkbar und kritisierbar macht. Doch aus der verweigerten Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit entsteht in einer Art Zeitsprung der Standpunkt, dass zu diesem Thema schon längst alles gesagt worden sei. Damit beschreibt der Text die Mechanismen, in denen koloniale Amnesie nahtlos in (post-)koloniale Nostalgie kippt und gemäss der sich beide konsequent einer Auseinandersetzung verweigern, ja diese als eine «unzeitgemässe» und «altmodische» Intervention, als das störrische Anliegen einer Minderheit auf Kosten des «Wohlbefindens» der Mehrheit abtun.